Sprache formt Wirklichkeit

Wie wir über Kinder sprechen, prägt, wie sie sich selbst sehen. Warum „nicht falsch“ immer noch falsch klingt – und wie eine Sprache aussehen kann, die Kinder stärkt, statt sie zu bewerten.

Warum Kinder keine Korrektur brauchen, sondern gesehen werden müssen

Manchmal meinen wir es gut und treffen trotzdem nicht den richtigen Ton, besonders wenn es um Kinder geht. Sätze wie „Du bist nicht falsch“, „Du bist nur anders“ oder „Dein Gehirn braucht einfach andere Wege“ klingen liebevoll und sollen trösten. Oft tun sie das auch. Doch manchmal bleibt ein leiser Zweifel zurück, den wir nicht hören wollen: Warum sollte ich überhaupt falsch sein?

Unser Gehirn hört meist zuerst das Wort selbst, bevor es die Verneinung versteht. Das ist wie beim rosa Elefanten. Wenn man sagt „Denk nicht an einen rosa Elefanten“, taucht er sofort im Kopf auf. So bleibt von einem Satz wie „Du bist nicht falsch“ oft nur das Wort „falsch“. Und damit auch die Vorstellung, dass es so etwas wie falsch überhaupt gibt – und dass man vielleicht dazugehören könnte.

Sprache beschreibt nicht nur die Welt, sie formt sie. Sie erschafft Bilder, Zugehörigkeiten und Grenzen. Wenn jemand sagt: „Homosexuelle sind nicht falsch, sie haben nur eine andere Sexualität“, oder „Frauen haben kein falsches Geschlecht, nur ein anderes“, spüren wir sofort, dass solche Sätze trotz ihrer guten Absicht etwas Unstimmiges tragen. Sie schaffen Kategorien, die unmerklich zwischen richtig und anders, zwischen normal und abweichend unterscheiden. Kinder spüren das sofort. Sie merken, ob Sprache sie einschließt oder markiert, ob sie Nähe schafft oder Distanz.

Wer einem Kind beweisen will, dass es nicht falsch ist, beginnt bereits am falschen Punkt. Kinder sind nicht falsch. Sie sind lebendig, unterschiedlich, voller Geschichten und Bewegung. Wenn wir ihnen zeigen wollen, dass sie nicht falsch sind, bleiben wir in der Logik des Mangels. Wir bestätigen unbewusst, dass es eine Norm gibt, an der man sich messen muss, und dass Abweichung erklärt oder entschuldigt werden muss. Doch Kindheit ist kein Mangelzustand. Kindheit ist Vielfalt in Bewegung.

Sprache ist das Herzstück unserer Beziehung zu Kindern. Sie sagt: Du bist willkommen. Du bist gesehen. Sie ist nie nur Ausdruck, sondern Haltung. Sie zeigt, wie wir Kinder sehen – als Projekte, die funktionieren sollen, oder als Menschen, die wachsen dürfen. Wenn wir aufhören, in richtig oder falsch zu denken, öffnen sich Räume für Verständnis, Beziehung und Entwicklung.

Wir brauchen keine Sätze wie „Du bist nicht falsch“. Wir brauchen Erwachsene, die gar nicht erst so denken. Denn es geht nicht um richtig, falsch, anders oder normal. Es geht darum, dass jedes Kind genau richtig ist, mit seinen Stärken, seinen Grenzen und seiner Art, die Welt zu erleben.

Sprache kann klein machen oder wachsen lassen. Sie kann Mauern bauen oder Brücken, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Schule und Leben, zwischen dem Urteil „du bist schwierig“ und der Haltung „du bist echt“. Diese Brücken brauchen wir – und zwar nicht nur für Kinder mit Diagnosen, sondern für alle Kinder. Wir brauchen Erwachsene, die Kindern zeigen, dass Zugehörigkeit kein Lob ist, sondern ein Recht. Dass richtig kein Leistungsurteil ist, sondern ein Gefühl, das aus Beziehung entsteht. Denn das Gegenteil von falsch ist nicht richtig. Es ist: gesehen werden.

ADHS ist keine Krankheit, sondern eine neurobiologische Variante, ein Teil menschlicher Vielfalt, ähnlich wie Linkshändigkeit. Kein Defizit, kein Mangelzustand, sondern eine Art, die Welt wahrzunehmen und zu verarbeiten. In einer idealen Welt würden wir individuelle Strategien sofort erkennen und fördern, ohne den Umweg über Etiketten oder pathologisierende Kategorien. Unsere Sprache sollte diese Haltung widerspiegeln: nicht bewerten, sondern verstehen.

Kinder erleben sich selbst durch die Worte, mit denen wir über sie sprechen. Sprache kann Türen öffnen oder verschließen. Sie kann Zugehörigkeit schaffen oder Zweifel säen. Vielleicht reicht es manchmal, einfach zu sagen: Jeder Mensch ist einzigartig. Jedes Gehirn arbeitet individuell. Jeder Mensch ist gut, so wie er ist. Du bist genau richtig, so wie du bist. Du hast Talente, Dinge, die dir leichtfallen, und andere, die dir schwerfallen. Du brauchst Strategien, die zu dir passen. Du darfst entdecken, was dir guttut, und du darfst im Einklang mit dir leben.

Am Ende ist es das, was zählt: Kinder zu begleiten, ohne sie zu bewerten. Sprache zu wählen, die trägt. Und eine Haltung zu leben, die nicht korrigiert, sondern stärkt.

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Julian Lehnhardt

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Der Begleiter

Magazin für Systemische Wegbegleitung

Wie wir über Kinder sprechen, prägt, wie sie sich selbst sehen. Warum „nicht falsch“ immer noch falsch klingt – und wie eine Sprache aussehen kann, die Kinder stärkt, statt sie zu bewerten.
Dieser Artikel ist am 20.10.2025 in meinem Newsletter „Der Begleiter“ erschienen. Er handelt von Resonanz und davon, wie Sprache Beziehung schafft.
Children don’t learn self-love from books. They learn it from us. A thought to reflect on – and a practical exercise for families – in the new edition of my newsletter “Der Begleiter.”