Aphantasie – Wenn das innere Auge schweigt

Stellen Sie sich vor, Sie können keine Bilder in Ihrem Kopf erzeugen – keine Gesichter, keine Orte, keine Erinnerungen. Für Menschen mit Aphantasie ist das Alltag. Wie wirkt sich das auf Lernprozesse, kreative Aufgaben oder persönliche Beziehungen aus? Was können Sie tun, um Betroffene zu unterstützen – und könnte es sein, dass auch Ihr Kind betroffen ist?

Wenn das innere Auge schweigt

Haben Sie schon einmal versucht, sich eine Figur aus Ihrem Lieblingsroman vorzustellen? Wie Frodo und Sam mühsam den Schicksalsberg erklimmen? Spüren Sie den Wind, sehen Sie die Lava, hören Sie die Flammen?

Für Menschen mit Aphantasie bleibt das innere Auge jedoch blind – sie können keine mentalen Bilder erzeugen.

Dieses faszinierende neurologische Phänomen betrifft etwa 2-4 % der Bevölkerung, ist jedoch wenig bekannt.

Was ist Aphantasie?

Aphantasie bezeichnet die Unfähigkeit, mentale Bilder zu erzeugen. Betroffene „sehen“ vor ihrem inneren Auge nichts – ein schwarzes Nichts, ohne Gesichter, Landschaften oder visuelle Erinnerungen. Dennoch können sie Konzepte und Erlebnisse klar beschreiben. Aphantasie ist keine Krankheit, sondern eine neurologische Variation.

Interessanterweise betrifft Aphantasie nicht ausschließlich visuelle Vorstellungen. Auch Geräusche, Gerüche oder Bewegungsabläufe können in der mentalen Vorstellung fehlen.

Wie fühlt sich das an?

Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, das Gesicht eines geliebten Menschen vor Ihrem inneren Auge zu sehen – und es bleibt schwarz. Oder Sie möchten sich eine Wegbeschreibung veranschaulichen, doch es entstehen keine Bilder. Genau so beschreiben viele Aphantast:innen ihre Erfahrung.

Variationen

Aphantasie tritt in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Während manche Menschen überhaupt keine mentalen Bilder erzeugen können, haben andere eine eingeschränkte Fähigkeit zur Visualisierung. Als Gegenpol zur Aphantasie gibt es die Hyperphantasie, bei der Menschen besonders lebhafte und detaillierte innere Bilder erzeugen können.

Wissenschaftlicher Kontext

Das Phänomen der Aphantasie wurde erstmals 1880 von Francis Galton beschrieben, geriet aber lange in Vergessenheit.

Erst 2015 wurde der Begriff „Aphantasia“ von Professor Adam Zeman geprägt, was zu einem erneuten wissenschaftlichen Interesse führte.

Eine bahnbrechende Studie von Zeman, Dewar und Della Sala (2015) mit dem Titel „Lives without imagery – Congenital aphantasia“ veröffentlichte detaillierte Erkenntnisse über die neurologischen und kognitiven Grundlagen von Aphantasie.
Die Forscher untersuchten Personen, die keine mentalen Bilder erzeugen konnten, und zeigten auf, wie sich dies auf ihr Denken und ihre Erinnerungen auswirkte.
Die Studie ebnete den Weg für ein tieferes Verständnis dieser kognitiven Variation und inspirierte zahlreiche weitere Forschungen.

Neuere Forschung hat gezeigt, dass Aphantasie auch Auswirkungen auf die Verarbeitung von Emotionen haben kann. Eine Studie von Milton et al. (2021) untersuchte, wie Menschen mit Aphantasie Emotionen wahrnehmen und verarbeiten. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Aphantasiker:innen weniger stark auf emotionale Reize reagieren, da ihnen die visuellen Komponenten fehlen, die oft mit Erinnerungen und Emotionen verknüpft sind. Dies könnte erklären, warum viele Betroffene analytischer und weniger impulsiv auf emotionale Situationen reagieren.

Eine weitere Studie von Keogh und Pearson (2018) zeigte, dass Aphantasie nicht nur die visuelle Vorstellungskraft betrifft, sondern auch andere sensorische Bereiche wie das Vorstellungsvermögen von Geräuschen oder taktilen Empfindungen beeinflussen kann.  Diese Erkenntnisse tragen dazu bei, Aphantasie als eine umfassendere Variation der Wahrnehmung zu verstehen.

Gesellschaftliche Perspektive

Aphantasie beeinflusst unser Verständnis von Kognition und Bewusstsein grundlegend. Es zeigt, dass Menschen auf sehr unterschiedliche Weise denken und Informationen verarbeiten können. Dies hat Auswirkungen auf Bereiche wie Bildung, Kunst und Psychologie, wo visuelle Vorstellungskraft oft vorausgesetzt wird. Die Erforschung von Aphantasie könnte zu inklusiveren Ansätzen in diesen Bereichen führen und unser Verständnis für die Vielfalt menschlicher Denkprozesse erweitern.

Irreführende Bezeichnung

Der Begriff Aphantasia kann leicht missverstanden werden, da er suggeriert, Betroffene hätten weniger Fantasie. Tatsächlich fehlt jedoch lediglich die Fähigkeit, mentale Bilder zu visualisieren – Fantasie und Kreativität bleiben davon unberührt.

Wie wird Aphantasie erkannt?

Ein zentraler Test, um die Fähigkeit zur mentalen Visualisierung zu bewerten, ist der VVIQ-Test (Vividness of Visual Imagery Questionnaire), entwickelt vom britischen Psychologen David Marks.

Dieser Test untersucht anhand verschiedener Szenarien, wie lebendig die inneren Bilder einer Person sind. Für jede Aufgabe bewerten die Teilnehmenden die Lebhaftigkeit ihrer Vorstellung auf einer Skala von 1 bis 5:

  1. Kein Bild, nur das Wissen um den Gedanken.
  2. Ein dimmes, vages Bild.
  3. Ein mäßig lebendiges Bild.
  4. Ein realistisches und lebendiges Bild.
  5. Perfekt lebendig, als ob man es real sehen würde

Beispiele aus dem Test umfassen das Vorstellen eines vertrauten Gesichts, eines Sonnenaufgangs oder einer natürlichen Landschaft. Wer durchgängig „1“ wählt, hat vermutlich Aphantasia.

Den VVIQ-Test ausprobieren

Leben mit Aphantasie

Menschen mit Aphantasia nutzen oft alternative Denkstrategien, um Informationen zu verarbeiten. Sie können beeindruckend analytisch sein, da sie nicht von emotional aufgeladenen Bildern beeinflusst werden. Zudem neigen sie dazu, sich auf Fakten und Konzepte zu stützen, statt auf visuelle Erinnerungen.

Herausfordernd ist es, wenn sie von ihrem letzten Urlaub erzählen oder Verdächtige bei der Polizei beschreiben sollen. Es wird davon ausgegangen, dass Aphantasiker Schwierigkeiten mit dem Erinnerungsvermögen haben, da sie keine inneren Bilder abrufen können, um vergangene Erlebnisse zu visualisieren.

Stattdessen stützen sie sich auf verbale Beschreibungen, logische Abfolgen oder konkrete Fakten, die sie mit der Situation verbinden.

Dies kann besonders schwierig sein, wenn Details wie Gesichter, Landschaften oder komplexe Szenen wiedergegeben werden sollen, die in visuellen Erinnerungen gespeichert wären.

Warum ist Aphantasia relevant?

Das Bewusstsein über Aphantasie ermöglicht es, Denkprozesse besser zu verstehen und unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen.

Lehrkräfte, Coaches und Führungspersonen können ihre Methoden gezielt anpassen, um Aphantasiker:innen effektiv zu unterstützen – etwa durch klare Anweisungen und konkrete Beispiele statt bildhafter Sprache.

Es ist entscheidend, zu wissen, ob Ihre Klient:innen, Schüler:innen oder Kund:innen Aphantasiker:innen sind, um individuell passende Ansätze zu bieten.

Fantasiereisen oder therapeutische Techniken, die auf inneren Bildern basieren, sind für viele hilfreich – etwa bei der Frage:

„Stellen Sie sich Ihre Angst als eine Form vor. Welche Farbe hat sie?“

Für Menschen mit Aphantasia sind solche Ansätze ungeeignet, da sie keine mentalen Bilder erzeugen können.

In solchen Fällen bieten sich alternative Methoden an. Statt visualisierungsbasierter Übungen können Achtsamkeitstechniken wie Atemübungen oder die bewusste Wahrnehmung einzelner Muskelgruppen genutzt werden. Auch strukturierte sprachliche Anleitungen oder das Einbeziehen realer Sinneseindrücke sind hilfreich.

 

Schulische Herausforderungen

In Schulen gibt es häufig Aufgaben wie: „Stell dir etwas vor und beschreibe es.“ Für Kinder mit Aphantasia kann das zu Unsicherheit und Selbstzweifeln führen, da sie den Eindruck bekommen könnten, sie würden etwas „falsch“ machen.

Ein klassisches Beispiel ist die Frage: „Was war dein schönstes Ferienerlebnis? Beschreibe, wie es dort war.“ Während andere von strahlender Sonne und türkisblauem Meer erzählen, bleibt Kindern mit Aphantasia nur die Erinnerung an Fakten und Worte. Hier ist es wichtig, Sensibilität zu zeigen und alternative Ansätze zu nutzen, die verschiedene Denkweisen berücksichtigen.

Weitere Herausforderungen im Alltag

Menschen mit Aphantasia können in verschiedenen Lebensbereichen auf Schwierigkeiten stoßen:

  • Erinnerungen an besondere Erlebnisse:
    Ohne visuelle Erinnerungen fällt es schwer, schöne Momente oder Orte lebendig nachzuvollziehen. Sie erinnern sich häufig nur an Fakten, nicht an die emotionale Atmosphäre.
  • Zukunftsplanung:
    Das Visualisieren von Zielen oder zukünftigen Erfolgen ist eine verbreitete Motivationstechnik. Menschen mit Aphantasia müssen alternative Wege finden, ihre Ziele zu definieren und sich zu motivieren.
  • Kreative Aufgaben:
    Künstlerische Tätigkeiten wie Malen oder Schreiben, die oft auf inneren Bildern basieren, erfordern andere Inspirationsquellen wie Beschreibungen oder Muster.
  • Zwischenmenschliche Beziehungen:
    Das mentale Vorstellen von Gesichtern oder gemeinsamen Momenten fällt schwer, was manchmal als distanziert wahrgenommen werden kann.
  • Orientierung und Navigation:
    Ohne mentale Karten von Orten wird die räumliche Orientierung erschwert. Menschen mit Aphantasia verlassen sich stärker auf GPS oder schriftliche Wegbeschreibungen.
  • Verarbeitung von Verlusten:
    Trauerarbeit wird oft durch das Erinnern an gemeinsame Momente erleichtert. Menschen mit Aphantasia fehlt dieser Zugang, was den Prozess erschweren kann.

Angepasste Ansätze für eine inklusive Unterstützung

Menschen mit Aphantasia profitieren von methodischen Anpassungen, die ihre Stärken hervorheben und Hindernisse umgehen. Hier einige praxiserprobte Ansätze:

  1. Verbale statt visuelle Anleitungen:
    Detaillierte Beschreibungen, klare Erklärungen oder schrittweise Anleitungen ersetzen das „Stell dir vor“.
  2. Arbeit mit Symbolen oder Objekten:
    Physische Hilfsmittel wie Karten, Modelle oder Diagramme machen abstrakte Konzepte greifbarer.
  3. Konzentration auf Sinneseindrücke:
    Übungen, die Hören, Fühlen oder Riechen einbeziehen, bieten alternative Zugänge zur Wahrnehmung und Erinnerung.
  4. Schriftliche Reflexion:
    Journals, Mindmaps oder Checklisten helfen, Gedanken zu ordnen und tiefer zu verarbeiten.
  5. Technikgestützte Tools:
    Digitale Anwendungen mit Animationen, interaktiven Grafiken oder Videos erleichtern die Vorstellung komplexer Inhalte.
  6. Bewegungsbasierte Methoden:
    Das Nachstellen von Szenen oder der Einsatz von Gesten unterstützt das Verständnis abstrakter Ideen.
  7. Fokussierung auf Sprache und Dialog:
    Gemeinsames Erarbeiten von Lösungen oder lautmalerisches Beschreiben fördert die sprachliche Vorstellungskraft.
  8. Ressourcenorientierte Ansätze:
    Analytisches Denken und Problemlösungsfähigkeiten gezielt einbinden, um individuelle Stärken zu nutzen.

Fazit: Unsichtbare Vielfalt im Denken – Eine Einladung zum Umdenken

Aphantasie verdeutlicht, dass es viele Wege gibt, kreativ und erfolgreich zu sein. Diese Vielfalt ist keine Schwäche, sondern eine Einladung, neue Perspektiven zu erkunden und Denkprozesse zu bereichern.

Indem wir Ansätze anpassen und Sensibilität zeigen, können wir Barrieren abbauen und Aphantasiker:innen dabei unterstützen, ihre Potenziale voll zu entfalten. Lehrer:innen, Coaches und Führungskräfte sind gefordert, inklusive und flexible Methoden zu etablieren, die den individuellen Bedürfnissen gerecht werden.

Aphantasie erinnert uns daran, dass Denken weit mehr ist als das Erzeugen innerer Bilder. Es fordert uns auf, die unsichtbaren Unterschiede in der Wahrnehmung zu respektieren und Vielfalt als Bereicherung zu sehen. Nur durch ein tieferes Verständnis und Offenheit können wir eine Welt schaffen, in der jede Denkweise ihren Platz findet. Vielfalt ist nicht nur unsere Realität – sie ist unsere Stärke.

Linkliste

Mehr erfahren Sie hier:

1. Aphantasia Network  – Eine Plattform für Austausch und Ressourcen rund um Aphantasia.

2. The Guardian: Living without mental images – Persönliche Geschichten und wissenschaftliche Hintergründe zu Aphantasia.

3. SRF: Blind auf dem inneren Auge – Ein Beitrag des Schweizer Fernsehens zu Aphantasia und ihren Auswirkungen.

4.Universität Bonn: Forschung zu Aphantasie – Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte und wissenschaftliche Hintergründe.

Lesefortschritt

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Julian Lehnhardt

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